Motto:
„Ich glaube wir sind aus Sehnsucht geboren. Daher verfolgt uns überall dieses erhabene Gefühl, ein Leben lang. Ich bin auf dem Dorf geboren, dort wo auch die Ewigkeit ihre Wurzeln hat. Aus diesem Grund bin ich keineswegs verlegen.”
Aurel I. Borgovan – „Sehnsucht nach dem Heimatdorf”
63 Exiljahre haben es nicht geschafft, die Erinnerung an das Heimatdorf Sebeşul de Sus (Sebesch gelesen) aus dem Gedächnis von Dumitru Sinu zu löschen. Es ist schließlich der Ort in der Umgebung von Hermannstadt in dem er seine Wurzeln hat. Trotz seiner weltweiten Reisen und zahlreichen Begegnungen mit allerhand Menschen strahlt sein Gesicht in unverwechselbarer Freude sobald die Mitbewohner aus Sebeş in irgendeinem Gespräch erwähnt werden. Obwohl er schon im Jahre 1948 seine Heimat verließ um sein Glück in der großen weiten Welt zu suchen, hortete er sorgfältig all seine Erinnerungen aus der Zeit davor. Diese befinden sich entweder in seinem Gedächtnis, oder in zahlreichen Heften, akkurat handschriftlich festgehalten und sortiert. Wenn man ihn darum bittet lässt er jederzeit gern die Vergangenheit Revue passieren.
Das Dorf von gestern, die Erinnerungen von heute
Zum Thema Heimatdorf habe ich mich mit „Onkel Mitică” lange Zeit unterhalten. Jedes Mal wenn das Dorf ins Gespräch kam, tauchten neue Erinnerungen auf. Seine Fähigkeit sich bis ins kleinste Detail an Sachen zu erinnern, die vor so viel Zeit passiert sind grenzt an ein Wunder.
Im Herbst 1948 entzog sich Dumitru Sinu zum ersten Mal der Feldarbeit und überließ den Dorfbewohnern das Einbringen der Ernte, indem er die Heimat verließ. Bis heute kann er sich noch ganz genau an jedes einzelne Familienmitglied erinnern, sei es auch noch so klein oder entfernt verwandt. Mit Zufriedenheit registriert er auch, dass seine Tochter, die jetzt in Frankreich lebt, genauso wie er selbst das Heimatdorf ins Herz geschlossen hat. “Es macht mich glücklich zu wissen dass Sandra mein Elternhaus zurück gekauft hat und, nachdem sie es renovieren ließ, zusammen mit ihrer Familie die Ferien dort verbringt. Für sie ist es viel einfacher; schließlich leben sie viel näher dran.”
In Sebeşul de Sus gab es keine Siebenbürger Sachsen und auch keine Ungarn. Die Härte des Lebens am Fuße der Karpaten hielt viele davon ab, sich in der Gegend niederzulassen. Nichtdestotrotz weist die Bauart der Häuser einen gewissen Einfluss des deutschen architektonischen Stils auf. In Talmesch (rumänisch Tălmaciu) – ein naheliegender, größerer Ort – gab es jede Menge Sachsen. Für einige hatte Onkel Mitică´s Vater ein paar Häuser errichtet. Zusammen mit seinem Bruder, Ion Sinu hatte er auch das Kulturheim im eigenen Dorf gebaut. Die Dachziegel kamen aus der kleinen Ziegelfabrik, die von seinem Großvater mütterlichereits, Ion Stănilă, genannt Der Ziegler, betrieben wurde.
Onkel Niculiţă, der väterliche Großvater war genau das Gegenteil seines mütterlichen Opas: weise und großzügig schenkte er allen Leuten seine Achtung und half gern vielen Mittbürgern in Not. „Sogar die Sachsen hoben ihren Hut vor ihm”. Onkel Niculiţă´s Ehefrau kam aus Talmesch, eine geborene Ritivoi. Sie stammte aus derselben Familie wie Ion Ritivoi, der, laut Mitică, wahrscheinlich der fleißigste Mensch der Welt war. Auch dieser hatte einige Jahre im Ausland verbracht um Geld für seine Familie zu verdienen, kehrte jedoch irgendwann zurück. Die Familie Ritovoi besaß ein besonders großes Haus in Talmesch, welches später nationalisiert und in ein Schulinternat umgewandelt wurde.
Um dieselbe Zeit war Sebeşul de Sus eine selbständige Gemeinde, geführt von einem Bürgermeister, der als Birău bezeichnet wurde; sein Stellvertretender war ein Pristav, heute würde man Vize dazu sagen. Für die ungestörte nächtliche Ruhe sorgte ein Boactăr, wärend die Wache über die Felder von einem Vornic übernommen wurde. Der Pârgar war zuständig für die Überbringung der Nachrichten; er übte sein Metier mit Hilfe einer Trommel, aus dessen Schläge jeder Versammlung auf dem Dorfplatz voraus gingen. Für die Niederkunft, zum Zähne ziehen und um Krankheiten zu besprechen gab es die Hebamme (rumänisch Moaşa). Man verfügte sogar über einen eigenen Purcar (Schweinezüchter) und einen Căprar, der auf die Ziegen aufpasste (Capra heißt auf rumänisch Ziege)!
Der Bürgermeister war der führende „Haushälter” im Dorf. Onkel Mitică Sinu erwähnte einen Ioan Manduc, der das Amt des Bürgermeisters 30 Jahre lang ausgeübt haben soll. Er war einer der meistgeachteten Bürgermeister der Gegend. Mit tadellosem Organisationstalent hatte er eine Menge Wissen von den siebenbürger Sachsen übernommen und konnte die Dorfbewohner wunderbar motivieren. „Er schämte sich nicht zuzugeben, dass er die Kunst des Haushaltens bei den Sachsen gelernt hatte” – erzählt der 56 jährige Marius Traian Dumitru aus Hermannstadt, Manduc´s Enkel.
Der gemeinschaftliche Boden wurde mit Hingabe und Ernsthaftigkeit sorgfältig verwaltet. Alle lebten in Frieden miteinander und bearbeiteten gemeinsam den kargen Boden, unter nicht gerade günstigen klimatischen Bedingungen. Sie züchteten Vieh, aber sie waren auch gute Handwerker. Die Varniţă (rum. Var bedeutet Kalk) erzeugte den nötigen Kalk für die Wände und Maurerarbeiten. Dazu verfügten sie noch über die bereits erwähnte Ziegelfabrik des Großvaters, dann das Mahlwerk (rum. Piua), dessen Aufgabe sowohl das Getreidemahlen wie auch die Ölgewinnung war. In der Wachswerkstatt wurde Bienenwachs geschmolzen und zu Kerzen verarbeitet. Das steinerne Mühlrad diente der Erzeugung von Essig und Apfelsaft. Auf ewig den alten Traditionen des Hermannstädter Randgebiets getreu, fehlte es ihnen an nichts Überlebenswichtigem!
Nachdem die Kommunisten die Staatsmacht an sich gerissen hatten, galt der Ort nicht mehr als eigenständige Gemeinde; er wurde als einfaches Dorf in die benachbarte Gemeinde Racoviţă eingegliedert. Nun hatten die Sebeşer keinen eigenen Bürgermeister mehr und mussten für jedes klitzekleine Verwaltungspapier einen Ausflug in der Nachbarschaft auf sich nehmen.
Die Bewohner dieser zwei Dörfer – Sebeş und Racoviţă – hatten ohnehin kein gutes Verhältnis miteinander. Schon seit ungewisser Zeit herrschte dicke Luft, angeblich aufgrund einiger Taten der Racoviceni, die jedoch im Laufe der Jahre von Allen vergessen wurden. Laut Onkel Mitică „waren die Racoviceni für uns so etwas wie die Russen für die Rumänen. Sie kamen, holzten den Wald ab, nahmen die Steine aus dem Flussbett und fuhren dann wieder weg!”
Da gibt es noch eine alte Geschichte, an die sich Onkel Mitică erinnert. Opa Niculiţă hatte ihm von einer Frau erzählt, die die Ohrläppchen ihrer Tochter durchbohren ließ, um ihr Ohrringe anzustecken. Üblicherweise zog man einen seidenen Faden durch die Löcher, um zu verhindern dass diese sich wieder schlossen; man hing auch einen kleinen Wachsklumpen daran, um sie zu beschweren. Da aber die genannte Frau gerade in diesem Augenblick kein Wachs zur Hand hatte, nahm sie einfach ein Stück Polenta. Die Racoviceni dachten sich ein spöttisches Lied dazu aus, sehr zum Leidwesen der Sebeşeni : Iese Buha din colibă / Cu cercei de mămăligă… („Kriecht die Eule aus dem Nestchen/ Mit Polenta an den Läppchen…”). In Sachen Humor ist der Folklore unübertroffen! Ob fröhlich oder traurig, für ein Gedicht waren sich den Leute nie zu schade.
Wann immer er mit dem Dorfleben anfängt, streut Onkel Mitică eine bunte Mischung lokaler Sprüche und ehemaliger Redewendungen ins Gespräch ein. Auch die Bräuche und Traditionen kommen nicht zu kurz. Als wahre Speicher unserer spirituellen Identität werden sie wohl von keinem von uns jemals vergessen werden.
Volksfeste und -bräuche aus Sebeşul de Sus
Als begeisterte Anhänger volkstümlicher Bräuche, die in dieser Gegend Rumäniens durchaus verbreitet waren, hielten die Bewohner von Sebeşul de Sus große Stücke auf das kulturelle Erbe ihrer Vorfahren. Möglicherweise trug auch die Abgeschiedenheit dieses schwer auffindbaren Ortes, verborgen im Schoße des majestätischen Berges Suru (der Schimmel), zur Erhaltung genannter Traditionen bei. Wie dem auch sei, Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts war das Pflegen bestimmter Bräuche und Feste nach einem ganz bestimmten Muster eine Sselbstverständlichkeit.
Wenngleich auch heute einige dieser Gepflogenheiten am Leben erhalten werden, die Pracht und Schönheit jener guten alten Zeiten, als Dumitru Sinu noch ein Kind war ist nicht mehr im gleichen Maße vorhanden. Im Alter von 85 Jahren erinnert er sich noch mit großer Freude an die Volks- und Religionsfeste des damaligen Sebeş. Jedes einzelne davon wird von ihm vorgetragen, als ob er aus einem Buch vorlese. Das ganze lebendige Treiben erwacht geradezu bildlich vor seinen Augen.
Palmsonntag
„Unter Leitung unseres Popen (sein Name war Tatu), seiner Gattin, und unseres Lehrers Stoia bildeten wir Kinder am Palmsonntag eine Prozession. In den Händen zarte Ruten, aus Trauerweide geschnitten, gingen wir zum Dorfeingang; der Pope und der Lehrer führten die Kolonne an, die Frau des Popen kam hinterher. Wir sangen: Sehet, die wärmenden Tage/ folgen dem eisigen Sturm./ Die Sonne des Palsonntags komme/ der Palmsonntag strahle darum./ Die Lerchen erfüllen den Himmel/ und Jesus mit seinem Gefolge/ bringt Liebe und Sanftmut vorbei./ Durch sein Gewand auf dem Boden/ den wahren Weg kündigt er an. Am frühen Morgen des Palmsonntags, um 6 Uhr, ging Popa Tatu in die Kirche und richtete an die heilige Maria ein eigens dafür gedachtes Gebet um die Vergebung aller Sünden der Dorfbewohner zu erreichen. Nach der heiligen Messe nahm jeder eine heilige Weidenrute mit nach Hause. Es galt als Vorschrift, dass man am Palmsonntag unter anderen auch Fisch zu Mittag essen musste.
Vor Ostern, während der heiligen Fastenzeit, gab es bestimmte Regeln, die beachtet werden mussten: gleich bei der Beichte brachte man zwei oder vier Eier mit (besonders ältere Leute und Frauen taten das). In der Woche zwischen Palmsonntag und Ostern sammelte sich das ganze Dorf täglich in der Kirche, jeder musste in die Beichte gehen und jeder bekam die heilige Weihe. Die Karwoche, war als Reinigungswoche der Ordnung gewidmet. Ähnlich einer schönen Frau, putzte sich die Kirche heraus und schmückte sich mit den schönsten Kleidern, um Ostern entgegen zu schauen. Dasselbe galt für jedes einzelne Haus im Dorf. Am Gründonnerstag wurde die heilige Messe der 12 Evangelien abgehalten. Speziell am Karfreitag war das Fasten extrem streng. Auf diese Weise, innerlich und äußerlich gereinigt, erwartete die Sebeşer das Fest der Wiedergeburt.
Das heilige Osterfest
Wer einmal die Nacht der Wiedergeburt in Sebeş erlebt hat, konnte das niemals vergessen: schon außerhalb des Dorfes vernahm man das Glockenläuten und das rhythmische, rituelle Schlagen der Toaca (eine Art Holzbrett, ein Aufruf zur Aufmerksamkeit). Mit donnernder Stimme rief der Pope: Ihr Herren, öffnet die Tore des Himmels und lasset Seine Heilige Hoheit eintreten! Gefolgt von Kommt und nehmt Euch das Licht! Nachdem er den Altar erreichte, wand er sich zur Gemeinde: Freut Euch alle, die Ihr gefastet habt und auch die, die es nicht haben! Dann ging jeder mit seinem Kelch nach vorne, nahm sich vom heiligen, im Wein getränktes Wafer etwas mit, deckte es mit einem sauberen, handbestickten Tuch ab und trug es nach Hause…
Währenddessen sangen der Chor und die Gemeinde Christus ist aufgewacht! Onkel Mitică erinnert sich an ein paar unglaublich schöne Stimmen aus seinem Dorf, die von Vasile Nicula oder die des Vasile Bădilă.
Der Frühling brachte immer das Fest des Heiligen Gheorghe mit sich. Da sammelten sich die noch ledigen Söhne des Dorfes und flochten Kronen aus Tannenzweigen. Diese hängten sie an die Tore der Häuser, wo Mädchen wohnten, die gerade mit dem Schulabschluss fertig waren. Dies war ein Zeichen: sie planten, am Abend nochmal vorbeizukommen, um die Mädchen mit Wasser zu bespritzen (verspricht Reichtum im Leben).
Es folgten die Pfingsten. Zu dieser Gelegenheit hielt man im Anschluss an die übliche Sonntagsmesse eine zusätzliche Predigt. Darin bat man um eine heile Rückkehr der Hirten und Schafsherden aus den Bergen. Zwischen Ostern und Pfingsten feierte man das Fest des Maßes. Hiermit verabschiedete man sich feierlich von den Schafherden, die von nun an zu den Almen in den Bergen getrieben wurden. Auch wurde mit jedem Schafbesitzer die genaue Menge an Milch abgemessen, die ihm weiterhin im Herbst zustehen würde. Die Berge und die ganzen Täler der Umgebung hallten, wenn der große Tisch festlich gedeckt war und die anmutigen Tänzer eifrig ihre Schritte vorführten! „Wie könnte man nur so etwas jemals vergessen?”, fragt mich Onkel Mitică und lächelt.
Weihnachten
„Zu Weihnachten waren wir Kinder und Jugendliche die glücklichsten von Allen”, erzählt Dumitru Sinu. Am Weihnachtsabend versammelten wir uns am Dorfeingang und übten schon die Weihnachtslieder. Diejenigen, die im unteren Teil des Dorfes wohnten, übernachteten bei Gheorghe oder bei Dumitru. Die „Mittleren” quartierten sich bei Vasile oder Aurel ein, und die aus dem oberen Teil bei Bucurenciu. Pro Haus sammelten sich etwa zehn bis fünfzehn Kinder.
Um vier Uhr in der Früh, am Weihnachtstag, band jeder seine Stofftasche an einem Stock, schulterte sie und ging aus dem Haus, um an den Türen der Dorfbewohner die Geburt Christi anzukündigen. Jeder tat sein Bestes und sang nach Kräften Deine Geburt, Jesus Christ oder Heilige Maria, Du Unbefleckte, denn wir wussten dass die Mühe sich lohnen würde: man gab uns Äpfel – genannt Roşcove (die Rötlichen), Birnen und Nüsse,
2-3 Stück Würfelzucker, Trockenobst. Manch einer gab uns sogar 2-3 Heller. Wir wussten, dass es sich sowohl bei Toma Tomiţii, wie auch bei den Maniocs nicht lohnte vorbeizuschauen, denn entweder hielten sie ihre Tore verschlossen, oder gaben uns bloß ein Stück Kohle.
Wenn wir mit Singen fertig waren, ging einer von uns ins Haus und grüßte artig. Sobald alle Häuser aus unserm „Revier“ fertig abgeklappert waren, machten wir uns auf dem Weg nach Hause. Du hättest uns sehen sollen, wie wir beim Geschenke auspacken jubelten! Außer uns vor Freude steckten wir die ganze Familie an; die freute sich mit, sozusagen über unsere Freude.”
Ähnlich wie vielerorts in Siebenbürgen (rumänisch Transilvania) gingen am Weihnachtsabend die heiratsfähigen Jugendlichen von Tür zu Tür und sangen ihre Weihnachtslieder. Die Gastgeber bereiteten für sie ein geflochtenes Rosinenbrot, geräucherte Würste und Katenschinken vor. Manchmal gaben sie ihnen auch Geld. Wenn Mädchen im Haus wohnten spielte die Musik ein paar Tanzlieder extra dazu und man blieb halt ein bisschen länger. Die üblichsten Weihnachtslieder waren der Viflaimul und der Irod.
Die Jugendbande traf sich in den Weihnachtstagen in einem der größeren Häuser, aß und trank von den geschenkten Vorräten und feierte mit Gesang und Tanz die ganze Zeit über. Oft wurde die Nacht zum Tage gemacht. Die Gruppe wurde von einem eigenen Birău und Pristav geführt, die für die Organisation zuständig waren. Der Wein kam aus der Târnave Gegend (auf Deutsch Scharosch), die Lebensmittel aus dem Dorf. Die Mädchen bereiteten das Essen vor. So konnten die Jungen beobachten, welche von den Mädels sich am besten als Braut eignete. Jeder junge Mann hatte drei Holzspieße mit seinem Namen drauf. Einer davon war für Schnaps, der andere für Wein und der dritte für Bier. Mit Strichen auf den Spießen hielt man die Rechnung fest. Erst später, zum Heiligen Johann bezahlten sie für den Verzehr…
„Die Weihnachtsstimmung, die einmalige Atmosphäre die um diese Zeit das Dorf Sebeşul de Sus umgab, all diese Bräuche und Traditionen, alleine der Geruch nach Sarmale (Krautwickel), Räucher- oder Leberwurst, sowie die Aromen des hausgebackenen Kuchens, all dies sind Sachen die ich niemals vergessen werde“ – erzählt Onkel Mitică.
Er hat mir noch vieles über das Dorf mitgeteilt, doch ich bin sicher, dass es noch jede Menge Dinge gibt, die erwähnenswert wären. Er weckte bei mir die Neugier. Ich begann mich für Sebeşul de Sus zu interessieren und hoffte auf eine Begegnung mit dem rumänischen Dorf von heute, mitten im dritten Millennium. Mich reizte der Vergleich mit Onkel Mitică´s Erinnerungen. Dumitru Sinu schien ein seltener Zeitgenosse aus dem letzten Jahrhundert zu sein, dessen Spuren ich unbedingt erkunden musste.
Sebeşul de Sus heute – mitten im Sommer 2011
Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen, das Dorf Sebeşul de Sus näher kennenzulernen. Die Reise in Mitică Sinu´s Heimatdorf blieb keineswegs ein Traum von mir, wenngleich ich nicht persönlich dahin reisen konnte, sondern ein befreundeter Reporter. Es war der Sommer 2011.
Sebeşul de Sus ist nicht nur ein ruhiger Ort auf Erden, sondern auch ein äußerst gastfreundlicher. Im reinsten Sinne ist es ein typisch rumänisches Dorf, seit Ewigkeiten lediglich von Rumänen bewohnt. Es gab hier praktisch keine Einflüsse von außen, keinerlei Wirkung anderer Kulturen und Volksgruppen, die in Siebenbürgen durchaus zu Hause sind (insbesondere Deutsche, Ungaren, Szekler).
Ende des Zweiten Weltkrieges gab es eine große Auswanderungswelle, die auch diesem Ort einen beträchtlichen Bevölkerungsschwund bescherte. Über ein Viertel der Dorfbewohner verließ das Land. Die Daheimgebliebenen verstanden es gut, die über Generationen vermittelte Lebensart weiter zu pflegen. Die Schönheit und Natürlichkeit des Lebens am Fuße des mächtigen Berges Suru wurde wie selbstverständlich geschätzt und erhalten, trotz aller wirtschaftlichen, sozialen und politischen Widrigkeiten, die Rumänien wie ein Fluch immer wieder heimsuchten. Sie überstanden die Nationalisierung, die Kollektivierung und die Genossenschaften. In den letzten 21 Jahren erlebten sie eine Form des Kapitalismus, die in Rumänien seltsame Blüten trägt, „ein Hurdu-Burdu-Kapitalismus“, wie Iustina Cercel – eine verschmitzte Nachbarin – das Ganze spöttisch bezeichnet.
Zwischen Friedhof, wo das Dorf beginnt und dem anderen Ende leben 312 Familien; dazu gesellen sich weitere 38, die am Wald zu Hause sind und etwa 20-25 Zigeunerfamilien, die ihre Häuser auf gekauften Grundstücken gebaut haben. Diese führen ihr eigenes, ungestörtes Leben und mischen sich nicht in den Angelegenheiten anderer Dorfbewohner ein. Hauptsächlich beschäftigen sie sich mit Waldfrüchte- und Pilze sammeln, sowie mit dem Holvertrieb.
Am oberen Ende des Dorfes, im Tal der Hebamme wurden einige moderne Villen errichtet. Nahe am Waldrand gelegen, in einer traumhaften Naturkulisse, dienen sie vielen reicheren Stadtleuten als Wochenendhäuser. Anwälte, Ärzte und Geschäftsleute fanden hier ein ruhiges Fleckchen Erde, vor den gezackten Gipfel der anmutigen Fogarascher Berge.
Das Dorf verfügt über Wasser- und Gasleitungen, aber hier und da stehen in den Höfen immer noch die alten Brunnen. Sebeşul de Sus ist eine beliebte Adresse für Ferien auf dem Bauernhof (Agrotourismus).
Sogar die Europäische Union hat einige der Projekte finanziell unterstützt. Insbesondere die neue Zugangsstraße, die das Dorf mit der Nationalstraße verbindet entspricht den höchsten europäischen Standards. Es besteht Hoffnung, dass die Erneuerung der Infrastruktur weiterhin andauern wird, dank EU-Unterstützung. Allerdings handelt es sich hierbei um einen sehr langwierigen und kostspieligen Prozess.
Sieben private Läden dienen der Versorgung vor Ort mit wichtigen Lebensmitteln. Dazu ein Motel, eine Terrasse und ein Restaurant. Es gibt sogar eine Nachtbar, die von den jüngeren Bewohnern gern angenommen wird.
Das Kulturheim, neulich renoviert, weist immer noch Spuren des Baustils seines Erbauers, Ion Ţiglaru’, Onkel Mitică Sinu´s Großvater; das Dach ist mit Ziegeln aus seiner Manufaktur bedeckt.
Ein Großteil der heutigen Sebeşer übt einen handwerklichen Beruf aus. Sie sind entweder Maler, Maurer oder Konstrukteure und führen somit die Tradition Ihrer Vorfahren weiter. Indem sie durch Ihre Arbeit Respekt und Achtung vor guten Leistungen und vor den anderen Menschen beweisen, bleiben sie der Tradition treu. Viele züchten auch Vieh; man kann in den Höfen Schafe, Ziegen, Pferde und Kühe erspähen. Von den früheren Ziegel-, und Ölbetrieben, sowie von der alten Mühle ist leider nichts mehr übrig. Auch die damit verbundenen Handwerke sind leider längst ausgestorben.
Viele Jugendliche arbeiten im Ausland, aber sie kehren zurück und bauen schöne Häuser, beziehungsweise renovieren die alten Gebäude. Lediglich diejenigen, die nach dem Zweiten Weltkrieg die Heimat verlassen haben sind nicht mehr zurückgekommen. Ab und zu besuchen sie noch das Dorf, doch das Wiedersehen reißt alte Wunden auf. Die Schmerzen, die ihnen durch den Kommunismus zugefügt wurden, können sie nie mehr vergessen.
Im kommenden Jahre steht ein besonders wichtiges Fest an: alle Bewohner des Dorfes, auch die die nicht mehr da wohnen, sind auf dem „Treff aller Dorfsöhnen“ eingeladen. Sandra, Onkel Mitică´s Tochter wird mit Sicherheit teilnehmen! Jährlich besucht sie das Eltern- und Großelternhaus. Obwohl sie selbst zu hundert Prozent Franzosen sind, lieben ihre Kinder die Schönheit dieses Ortes und die offene Art seiner Einwohner. Ihre Mutter hat es geschafft, ihnen die Liebe zur Heimat Ihres Großvaters erfolgreich zu vermitteln.
Im Laufe des Jahres 2011, noch vor dem sommerlichen Fest des Heiligen Ilie wurden in Sebeşul de Sus zehn Paare vermählt. Mit einem statistisch ermittelten Wert von elfeinhalb Hochzeiten im Jahr kann sich der Ort als jung bezeichnen. Die Sebeşer blicken zu Recht mit Optimismus in die Zukunft, denn das ist für rumänische Verhältnisse viel. Das Dorf verfügt über Kindergarten und Grundschule. Ab der fünften Klasse werden die Kinder per Schulbus ins den Nachbarort Racoviţă gefahren.
Die orthodoxe Kirche, die etwa 1000 Personen fasst, wurde neulich renoviert. Der Pope hütet Das Goldbuch, wo man die Namen aller Beteiligten an den Renovierungsarbeiten vermerkt hat. Auch Onkel Mitică Sinu ist mit einem recht großen Geldbetrag eingetragen: er hat die Innenmalereien finanziert.
Es gibt auch eine Monographie über das Dorf; der Autor, Dumitru Stănilă ist der Vater der Professorin Luciana Stănilă, eine Dorfstochter, die außerordentlich hohe akademische Ehren genießt. Sie ist Doktorin der Medizin und lehrt an der Medizin- und Pharmazieuniversität Iuliu Haţieganu in Klausenburg (Cluj-Napoca). Aufgewachsen ist sie in dem Haus gegenüber von Onkel Mitică´s Elternhaus und ist, genauso wie er, eine begeisterte Unterstützerin. Mit der Familie Sinu verbindet sie eine langjährige Freundschaft. Ihr Elternhaus wird von einer ärmeren Familie bewohnt.
Die meisten Dorfbewohner, speziell die Älteren können sich gut an die Familie Sinu erinnern. Von den vier Brüdern lebt keiner mehr in Sebeş: Iosif (genannt Sâvu) wohnt in Hermannstadt (Sibiu) und Onkel Mitică in den Vereinten Staaten. Die Brüder Ion und Nicolae sind beide verstorben. Nur noch einige fernere Verwandte sind in Sebeşul de Sus weiter ansässig.
Wer mehr über Onkel Mitică´s Familie erfahren möchte, setzt sich in Verbindung mit dem ältesten Dorfbewohner, Vasile Ionaşcu, ehemaliger Kirchenschreiber (rum. Crâsnic),. Im hohen Alter von 96 Jahren lebt er zusammen mit seiner jüngeren Frau, einer 86-jährigen. Natürlich erinneren sich beide an Ihre Jugend und an die Sinu´s! Onkel Niculiţă und Tetea Ţiglaru’, sowie Onkel Mitică und seine Brüder gehörten damals zum Gesamtbild des Dorfes. Beide hoffen auf ein Wiedersehen mit Dumitru und Sâvu (Iosif) Sinu auf der großen Versammlung im nächsten Jahr!
Vasile kriegt zwei Renten: eine von der Kirche und eine als Kriegsveteran. Seiner Meinung nach war alles immer gut; auch unter den Kommunisten und auch jetzt. Er hat mit dem Leben seinen Frieden geschlossen, ist weise und zufrieden geworden. Im Krieg hat er gekämpft und war vom Reichtum der damaligen Ukraine geradezu verblüfft, als dort die Hilfe aus Amerika antraf. Die rumänischen Kampfeinheiten waren den Deutschen auf der Spur und folgten ihnen weiter. So überquerte Vasile das Tatra-Gebirge und erreichte die Tschechoslowakei. Als der Krieg zu Ende ging, kehrte er zu Fuß nach Hause zurück… Die Geschichte seiner Heimkehr hört sich an wie eine endlose Geschichte voller Qualen. Ein Wunder, dass er dieses hohe Alter noch erreicht hat!
Fräulein Iustina Cercel ist eine quirlige, sehr schlaue Bewohnerin des Dorfes. Als ehemalige Buchfhalterin der Kooperative im nahe liegenden Ort Avrig (Freck) erhält sie heute, mit 76 Jahren eine angemessene Rente. Doch sie widmet sich auch dem Haushalt, hält zwei Ziegen und ein Pferd, arbeitet auf dem Feld und genießt am meisten das Heumachen im Sommer. Zusammen mit ihrem Bruder, Rusalim, bewohnt sie ein Haus aus dem Jahre 1935, gebaut in sächsischem Stil, das früher mal eine Bäckerei war. Beide erinnern sich gern an Onkel Mitică.
In Sebeşul de Sus stehen viele Häuser verschlossen und verriegelt, denn ihre Besitzer sind im Ausland. Einige sind leer, mit den ganzen Erinnerungen darin gehortet. Sie warten auf ihre Herren, wer weiß wie lange…Andere werden noch von irgendeinem Familienmitglied bewohnt. Es sind Menschen, die älteren Menschen, die ihren Kindern nicht ins Ausland folgen wollten. Sie lassen sich nicht entwurzeln.
So geht es auch der Mutter von Ian Radu, einer der Sebeşer, die sich wie viele Andere in Detroit, Michigan niedergelassen hat. Ligia Podorean, aus Spanien und Dumitru Căpăţână aus den Vereinten Staaten haben vor kurzem das Dorf besucht und versprachen Hilfe bei den Vorbereitungen für das Fest im Jahre 2012.
Die Höfe sind in Sebeşul de Sus generell groß. Sie bestehen meist aus zwei Gebäuden, dazwischen ein großes Tor, welches sich zum Innenhof öffnet. Die Höhe des Torbogens und die Breite der großzügig geschnittenen Höfe erlauben den Eintritt und das Wenden eines Pferde- oder Bullengespanns. Ganz hinten, am Ende des Hofes befinden sich die Scheunen, Ställe, Schuppen und der Garten.
Nicht weit weg vom Dorf befindet sich der Wasserfall Chiişoara, die Badestelle schlechthin, ein Ort an der mit Sicherheit auch Onkel Mitică als Kind gespielt hat. In zwei Kilometer Entfernung vom Dorfeingang findet man die Eisenbahnhaltestelle Sebeşul de Sus. Gleich dahinten fliesst der Alt (rum. Olt) und gleich 500 Meter weiter befindet sich einer der neuesten und modernsten Wasserkraftwerke des Landes. So ungefähr sieht es in und um Sebeşul de Sus im Sommer 2011 aus…
Wenn es um seinen Heimatort geht, spricht Mitică Sinu viel vom einzigen Bruder der noch am Leben ist, Iosif.
Wer Kirchen baut, errichtet Herzburgen – Iosif Sinu
Iosif Sinu wurde am 4.Juni 1923 in Sebeşul de Sus geboren. Er ist das dritte Kind der Familie Sinu, drei Jahre älter als Onkel Mitică. Abgesehen von ihm ist er der einzige, der noch lebt. Er wohnt in Sibiu und führt dort ein ruhiges Leben, umgeben von seinen geliebten Erinnerungen. Auf sein erfülltes Leben ist er sehr stolz und erinnert sich gerne an all die Bauten, die er gekonnt und voller Freude errichtet hat.
Schon als Jugendlicher erlernte er den Maurerberuf, ein traditionelles Handwerk aus seinem Heimatdorf. Als geachteter Häuserbauer war sein Vater damals im gesamten Hermannstädter Rundgebiet sehr angesehen, bekannt und beliebt. Sogar die Sachsen, die bekanntlich ihr Süppchen eher allein kochen, hatten ihn gerne und respektierten ihn. Schade dass er in einem absurden Unfall, im Alter von gerade mal 75 Jahren, sein Leben verlor – erzählte mir Iosif Sinu neulich in einem Telefongespräch. Er hätte ruhig weiter leben können. Es passierte während seiner Rückkehr vom Viehmarkt, aus Freck. Als das Gespann plötzlich vor einem Hindernis anhielt, fiel er Kopfüber aus dem Wagen; ein Rad fuhr genau über seinen Hals. Vergeblich versuchte seine verzweifelte Frau ihn wiederzubeleben. Er hatte im Himmel einen Termin…
Mann kann getrost sagen, dass der Sohn das Handwerk seines Vaters in Ehre weitergetragen hat. Sein Leben lang übte er es weiter aus, mit sichtbarem Erfolg. Nachdem er sein Studium als Konstrukteur abgeschlossen hatte, wurde ihm oft die Bauaufsicht für viele wichtige Großprojekte im Hermannstädter Raum übertragen. Eines seiner Meisterwerke – denn Iosif Sinu hat Dinge gebaut, die diese Bezeichnung durchaus verdienen – ist das berühmte Kloster Sâmbăta de Sus, eines der schönsten Bauten seiner Art im Komitat Fogarasch (rum. Ţara Făgăraşului). Dazu gesellen sich zwei Kirchen in Heltau (rum. Cisnădie), eine andere in Stolzenburg (rum. Slimnic) und die Kathedrale in der Gheorghe Dima-Straße von Hermannstadt – allesamt Kunstwerke, die ohne seine Erfahrung und sein Talent niemals so entstanden wären. Mit allem was er in seinem Leben erreicht hat ist er zufrieden. Er verbringt sein Lebensabend in liebevoller Umgebung, stolz auf seine kostbaren Erinnerungen zurückblickend.
Geheiratet hatte er natürlich auch. Seine Frau, Arthemiza, die Tochter des Anwalts Vasile Chivu, war ein herzliches Mädchen mit tadelloser Erziehung, aufgewachsen in intellektueller Tradition (Ihre Mutter war Lehrerin). Durch die Ankunft der zwei Kinder Gabriel und Corina wurde ihr Glück als Ehepaar vervollständigt. Sie starb am 13. Oktober 1995. Arthemiza hatte eine Schwester, Daniela, die in Großnikopel (rum . Turnu Măgurele) als Ärztin praktizierte.
Die zwei Kinder von Iosif und Arthemiza sind nach Deutschland gegangen; beide sind Ärzte und wohnen in Frankfurt. Gabriel ist Anästhesist – sagt Iosif Sinu – verheiratet; seine Frau übt den gleichen Beruf wie er aus. Corina, meine Tochter, ist Zahnärztin. Ihr Mann, ein Siebenbürger Sachse ist Ingenieur. Ich erfahre von Iosif Sinu, dass im Moment der Auswanderung seiner Kinder, deren Onkel, Mitică in Paris wohnte. Für den Anfang sind sie zu ihm nach Frankreich gezogen. Doch es gab Schwierigkeiten bei der Anerkennung Ihres Abiturs. Demzufolge entschieden sie sich, weiter nach Deutschland zu ziehen. Dort studierten sie Medizin. Meine Tochter, Corina verdankt Ihr Medizinstudium ihrem Onkel, Mitică – sagt Iosif Sinu. Er ist derjenige, der Ihre Schritte in diese Richtung leitete.
Zusammen mit Iosif Sinu unternahm ich eine Reise durch die Familiengeschichte… Bei ihm, wie auch bei seinem Bruder, fand ich dieselbe Hochachtung für Eltern und Großeltern, allen voraus das Bild ihres Vaters, dessen Ehrlichkeit, Begabung und Zuneigung die Söhne tief geprägt hat. Dann die Großeltern, damals allerseits geachtet und bekannt, eine Erinnerung wie ein kostbarer Talisman, tief in ihren Herzen verborgen. Im Gespräch mit Onkel Iosif erfuhr ich auch wie Ţiglaru’, der Großvater mutterseits, seinen Beruf als Ziegelmacher in Russland während des Krieges erlernte. Dort wurde er in die Einzelheiten dieses Handwerks eingeweiht und so konnte er nach der Rückkehr in senem Heimatort eine eigene Fabrik gründen. Er war ein wohlhabender Mann, allerdings etwas streng, beendet Iosif Sinu die kurze Schilderung seiner Familie.
Im Laufe meiner zahlreichen Gespräche mit Dumitru Sinu durchblätterten wir eine Menge schriftlicher Anmerkungen über Sebeşul de Sus und seine Einwohner. Alles findet sich darin wieder. Es schien mir schier unmöglich dermaßen viele Informationen in einem einzigen Menschenleben aufzuschreiben, sorgfältig zu sortieren und ordentlich abzuheften, je nach Thema, Bereich und zeitlichem Rahmen. Als ob er meine Gedanken lesen könnte, begann er über seine Schlaflosigkeit zu erzählen…
„Schon als Kind konnte ich nicht schlafen!”
„Pro Nacht schlief ich immer nur ganz wenig. Diese Eigenart zieht sich unverändert durch mein ganzes Leben. Möglicherweise handelt es sich um eine Krankheit, obgleich ich eigentlich noch nie richtig krank gewesen bin. Sogar die Krätze, die alle Kinder im Schulinternat befallen hatte, machte vor mir halt! Meine Sicht, meine Zähne, mein Gehör, all das ist mit mir alt geworden… Noch heute weiß ich, wie ich damals für mich und für meine Brüder die Nachtlager im Schuppen auf Heu vorbereitete. Wie schnell waren alle eingeschlafen! Nachdem sie kurz miteinander sprachen –wir vermissten unsere früh verstorbene Mutter sehr – schlummerten sie davon. Ich konnte nicht! Mich quälte der Gedanke an Mutti, die Erinnerung war ganz frisch, obwohl ich sie eigentlich nicht viel gekannt habe. Dann stand ich auf und ging nach draußen. Wenn der Himmel klar war, zählte ich die Sterne. Bei 20 blieb ich stehen; weiterzählen konnte ich noch nicht, also sagte ich „noch eins“ und „noch eins“ und „noch eins“… In meiner Vorstellung war meine Mutter bei den Sternen und blickte auf mich herunter.”
Weise und liebevoll, besorgt um die Schlaflosigkeit seines jüngsten Sohnes riet ihm sein Vater jeden Abend vorm Einschlafen, ein Kreuz auf seinem Kissen anzudeuten… Das Kind gehorchte folgsam und, statt zu beten, rezitierte es dazu: „Kreuz im Himmel, Kreuz auf Erden, Kreuz an der Stelle wo ich schlafe”… Herrgott nochmal, bete anständig! – erwiderte sein Vater und ärgerte sich über Opa Niculiţă, der seinem Sohn solchen Unsinn beigebracht hatte. Der Kleine fügte hinzu „Lieber Gott, verzeih all die Sünden von Mutter Eva, Mutter Ana und von meiner Schwester“… Der Vater wiederum sprach „Vater Unser, gib´ uns Gesundheit!“ und Mitică ergänzte: „den Rindern, dem Pferd, dem Büffel, den Schweinen, den Hühnern, den Katzen…”, bis sein Vater es satt hatte und den Bengel ins Bett schickte: „Schlaf dich aus, du Kleintaugenichts! Nicht einmal das Gebet kriegst du richtig hin!
Später, nachdem er diese Schlaflosigkeit mit sich in die weite Welt trug fand Dumitru Sinu auch ein Gegenmittel, indem er sich einfach in der faszinierende Welt der Bücher zurückzog. Er las enorm viele Bücher und nutzte die extra freie Zeit um seine eigenen Erinnerungen niederzuschreiben. Seine Ehefrau, Nicole gestand, dass er dreißig Mal in der Nacht das Licht anknipste und etwa sieben Stunden pro Tag mit Lesen verbrachte. Auf diese Weise gelang es ihm, eine beeindruckende Menge an Notizen und Anmerkungen zu sammeln, Hefte voller Gedanken und Erinnerungen.
„Auch ein blindes Huhn findet mal ein Korn!”
Seine älteren Brüder nannten ihn ständig der Kleine, der Ungeschickte, Flitzer, der Schlaflose. Manchmal übertrieben sie und behaupteten er sei so viel Wert wie eine gefrorene Zwiebel, oder er wüsste nicht mal wie man die Bullen führt, und schon gar nicht wie man sie reitet. Natürlich war er darüber verärgert.
Das spornte ihn später an sich selbst und den Anderen zu beweisen, dass er gar nicht so unbegabt war. Als erwachsener Mann zeigte er, dass er durchaus in der Lage war, seine Ziele zu erreichen: ein erfülltes Leben, glücklich und zufrieden mit seinem eigenen Weg.
Zwar hat er nicht studiert, denn die Zeiten und seine materiellen Möglichkeiten waren damals ungünstig. Doch er ergänzte seine mittlere Reife aus einem Hermannstädter Lyceum durch eine Menge Lektionen aus der Schule des Lebens. Als Autodidakt lernte er aus den Erfahrungen anderer und umgab sich mit wertvollen, gebildeten Menschen, mit denen er gut mithielt. Die Anhäufung von Allgemeinwissen und seine natürliche Neugier trugen zum Formen seines Charakters bei und machten aus ihm einen Menschen von beneidenswertem Bildungsgrad. Doch all das wäre nichts wert ohne seine stete Bemühung, vor allem als rechtschaffener Mensch durchs Leben zu gehen.
Ohne Aufforderung schenkte er vielen Bedürftigen Hilfe und Unterstützung; seine Großzügigkeit ist sowohl im Familienkreis wie auch Dorf bekannt. Sein Lohn kam vom lieben Gott!
Nachdem er jahrelang in Frankreich, Kanada und den USA hart gearbeitet hatte, konnte er sich schließlich den Traum seines Lebens erfüllen. Er ist jetzt stolzer Besitzer dreier Hotels in Amerika: eines in Long Beach, California, das andere in Reno, Nevada und schließlich eines in Phoenix, Arizona. Das letzte trägt den Namen CORONADO. Rückwerts gelesen heißt das auf rumänisch so gut wie Oh, Ja, Glück ( O, DA, NOROC)!
Mitică Sinu gibt zu, dass er eine Menge seines Erfolges dem Zufall verdankt, doch: „Auch ein blindes Huhn findet mal ein Korn!” bemerkt er verschmitzt. Er kann es nicht lassen, die lustigen Redewendungen, die aus seinem früheren Leben inmitten der damaligen Dorfgemeinschaft stammen, immer wieder zu benutzen…
Seit wann waren sie nicht mehr in Sebeşul de Sus? – fragte ich Onkel Mitică. “Es sind schon zehn Jahre vergangen, seitdem ich 2001 das Dorf besuchte”, antwortete er mir. Und welche Gefühle er beim Betreten des Dorfes, nach so vielen Jahren, hatte?
”Sie kamen mir alle so fremd vor, und ich war ihnen genauso fremd. Es war nicht mehr das Rumänien von früher…”
SEBEŞUL DE SUS – mit „Onkel Mitică” durchs Land der Erinnerungen
Übersetzung aus dem Rumänischen von Gabriela Căluţiu Sonnenberg
Januar 2012
Octavian D. Curpaṣ
Phoenix, Arizona